List auf Sylt, 28. Februar – 7.März 2018
(von Christa)
List ist der nördlichste Ort auf der abgelegenen, an Dänemark grenzenden Nordsee-Insel Sylt, im Winter fast so einsam und verlassen wie zur Zeit meiner Kindheit, als noch niemand wußte, daß sie schon einige Jahre später die “Perle der Nordsee” genannt werden würde. Hier sind meine Wurzeln, tief vergraben im Sand mit den Erinnerungen einer schwierigen, kriegsbelasteten Kindheit. Auf der anderen Seite hatten wir unbegrenzte Freiheit und manchmal auch Unbeschwertheit in den Weiten der Dünen, den Stränden und dem sich ständig wandelnden Meer. Wir lernten laufen und schwimmen zur gleichen Zeit, denn der Strand und das Meer waren unsere Spielplätze.
Mehr als ein halbes Jahrhundert später bin ich mit Michael in List – mitten im Winter. Schon als das Auto auf den Sylt-Shuttle, der Verbindung zwischen dem Festland und der Insel, auffuhr, brachte der scharfe Wind den Geruch von Salz und Meerwasser herauf. Auf der Insel setzte bei eisigem Nord-Ost-Wind ein Schneesturm ein. Unser Quartier war kalt – “noch, dachten wir, wird schon werden”. Aber der kalte Nord-Ost holte sich die zögerliche Wärme gleich wieder raus. Und in der Küche kam kein Wasser – eingefroren.
Und wo ist das Meer? Wir liefen zum Strand – das Wasser nicht zu sehen, nur Eis, eine Landschaft wie auf dem Mond! So hatte einmal ein Besucherkind zu mir gesagt, als wir durch die Dünen wanderten: “Wie kann man nur in dieser Mondlandschaft leben!” Ich war empört und beleidigt: “Soll der doch zuhause bleiben!”
Eine solche Kälte, wie wir sie grad erleben, gab es schon lange nicht mehr. Wir versuchen uns ohne Wasser in der Küche und bei kühlen Temperaturen im Appartement einzurichten. Der eisige Wind am Strand macht uns zu schaffen, schneidet ins Gesicht und dringt durch die Kleidung. Nur langsam gewöhnt sich unser Körper an die ungewohnten Temperaturen. Am 2. Nachmittag wollte ich in das einzige Cafe´ am Ort, um bei wohliger Wärme und einem Friesentee zu entspannen. Das Cafe´ war bis auf den letzten Platz besetzt – hierhin hatte sich alles geflüchtet, was sich auf die Insel und seinen nördlichsten Ort getraut hatte! Ich konnte das gut verstehen und hab uns im Appartement einen Kaffee gekocht.
Es blieb auch die nächsten Tage kalt und stürmisch. Dennoch begann am 3. Tag das Wasser zu tröpfeln trotz der Minusgrade. Wir waren erleichtert, da die Vermieterin, die im Winter nicht auf der Insel lebt, uns ein Angebot zum Umziehen vermittelt hatte und wir überhaupt keine Lust dazu hatten. Gut gelaunt (eigentlich immer!!) fuhren wir nach Braderup in den Insel-Bioladen und weiter nach Munkmarsch, einem heute kleinen unbedeutenden Ort an der Ostseite. Einstmals war Munkmarsch das Tor zur Insel. Hier legten die Dampfer an, die vom Festland, dem heute dänischen Hoyerschleuse, zur Insel übersetzten. 3 Stunden oder auch mehr dauerte die Überfahrt, je nach Wind, Wetter und Wasserstand, bei Ebbe konnte das Schiff nicht anlegen. und so mancher Gast wurde schrecklich seekrank!!
Das ist längst vorbei, seit 1927 der Hindenburgdamm eingeweiht wurde und der “Sylt-Shuttle” Gäste und Autos mühelos auf die Insel schafft. Der kleine Hafen hat seine Bedeutung verloren, aber seinen Charme bewahrt mit den kleinen Segelbooten und dem wieder aufgebautem Fährhaus, so daß es mich immer wieder dorthin zieht. Am späten Nachmittag wurde der Himmel klar und ich ahnte: Michael hat eine Abendveranstaltung vor, und das bei Wind und Kälte!!!
Wir fuhren zur Lister Strandhalle, wo Michael unten am Strand sein Stativ aufstellen wollte. Hm, der Weg zum Strand war gesperrt….Hinterher sahen wir, daß der Sturm die Treppe, die hinunterführt, zerstört hatte. Also suchten wir uns einen Weg über die Düne, um im Schutz hinter der Düne den Sonnenuntergang zu beobachten.
Wir waren etwas zu spät und konnten gerade noch einen Zipfel der Sonne einfangen. Umso schöner entwickelten sich danach die Farben am Himmel. Ich lief am Strand entlang, um warm zu werden. Es war Ebbe und vollkommen einsam – eine geheimnisvolle Stille trotz des Windes, und nach einer Weile konnte ich Michael nicht mehr sehen. Die Dunkelheit hatte etwas Magisches, das ich aus meiner Kindheit kenne, wenn es mich besonders in den Abendstunden immer weiter auf die
Ebbe hinauszog, obwohl ich mich fürchtete. Ich fand Michael wieder und dachte, wir fahren jetzt heim. “Der Himmel ist klar, jetzt kommen doch erst die Sterne…”
Ich tappte den Weg zurück über die Düne, um zu sehen, ob die Strandhalle noch geöffnet hat. “Wir schließen mit Sonnenuntergang ( das war vor mehr als einer Stunde ) “, sagte der freundliche Inhaber, den ich kannte. “Aber ich mach dir noch gern einen Glühwein.” Wie gut das tat!! und bald danach war auch Michael bereit aufzubrechen. Ich bewundere ihn, wie er bei Wind und Kälte stundenlang aushält, um Zeitraffer-Videos vom Sonnenuntergang oder vom Sternenhimmel zu machen!!
Die nächsten Tage wurden etwas milder, so daß wir uns noch mal an den Weststrand trauten, nach Kampen, vorbei an den Kurhäusern zum Kampener Kliff. Dieses ist neben dem Morsumer Kliff die große Attraktion der Insel. Nach jedem Winter, wenn die Sturmfluten daran nagen und die Regenschauer es zerfurchen, verändert es sein Gesicht.
Der letzte Tag war ein richtiger Sonnentag. Wir liefen an dem wunderschönen Friedhof vorbei durch die Lister Dünen und Heidetäler zur sehr einsam gelegenen Jugendherberge Möwenberg und dann mit dem weiten Blick auf den Ellenbogen und den Königshafen über den Außendeich und das Vogelschutzgebiet zurück nach List. Auf den Feuchtwiesen und Tümpeln tummelten sich die Wintergäste, Wildgänse und Wildenten, am Strand sommers wie winters Möwen und Austernfischer. Vogelkundler entdecken hier unzählige Vogelarten, die von überall herkommen, hier rasten oder auch überwintern.
Das schöne Wetter verführte Michael dazu, noch mal einen Sonnenuntergang zu photographieren. Hierfür wählten wir einen Aussichtspunkt in den Lister Dünen mit Blick über die Heidetäler und der großen Wanderdüne als Kulisse. Hier wird die Einsamkeit und Stille der Insel besonders deutlich, was wir am Vormittag auf der Wanderung zur Jugendherberge schon wahrgenommen hatten.
Jeder Urlaub ist zu kurz!! Und die Insel mit ihrem herben Charme macht mir den Abschied immer besonders schwer. So hat es seltsamerweise über 2 Stunden gedauert, um mit dem Sylt-Shuttle über den Damm aufs Festland zurückzukehren.